Welche Chancen bietet „Flipped Classroom"?

Für das Lernen zuhause wurden gute Erfahrungen damit gemacht, dass die Lehrkraft kurze Erklärvideos, sogenannte Screencasts, zur Verfügung stellt. Hierbei handelt es sich nicht um einen aufgenommenen Frontalunterricht, sondern in der Regel um durch die Lehrkraft besprochene, sich nach und nach entwickelnde Bilder, ähnlich einem Tafelbild und ähnlich einer Power-Point-Präsentation. Die Lehrkraft ist in der Regel nicht sichtbar. Es können aber auch Texte, Anleitungen, begleitende Arbeitsaufträge oder Tools zur Bearbeitung, die auf Moodle abgelegt werden können, unterstützend eingesetzt werden.

Zuallererst muss sichergestellt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler die nötigen Voraussetzungen mitbringen. Abgesehen von der Hardware sowie einer Internetverbindung ist eine gewisse Medienkompetenz von Nöten. Die Klassenmitglieder müssen die Lernangebote eigenständig abrufen können. Dieser Prozess wird erleichtert, wenn sich die gesamte Schule für einen einheitlichen Weg der Materialdarbietung entscheidet. Gerade jüngere Schülerinnen und Schüler sind schnell überfordert, wenn sie in einem Fach über Moodle, im nächsten über eine Schulcloud und in allen anderen Fächern direkt über einen YouTube-Link zu ihren Erklärvideos gelangen sollen. Die Eltern sollten zudem bei der Einführung des Flipped Classroom eingebunden sein, da die Umsetzung verstärkt erzieherische sowie familienorganisatorische Aspekte betrifft. Dies sind beispielsweise die Bildschirmzeit der Kinder, die Bereitstellung von Endgerät und Heimarbeitsplatz sowie der Jugendmedienschutz.

Unterricht per Flipped Classroom muss langfristig geplant sein. Die Lehrkraft legt bei der Planung einer Unterrichtsreihe fest, welche Inhalte eigenständig oder in der Schule erarbeitet werden. Diese Planung muss mit großer Sorgfalt erfolgen, da während der Heimarbeitsphasen nicht nachgesteuert werden kann. Ist der Arbeitsauftrag an die Lerngruppe nicht präzise formuliert, leidet die Transparenz. Auch die Auswahl der eingesetzten Materialien muss passen. Dabei müssen diese nicht alle selbst erstellt werden. Auf verschiedenen Plattformen sind z. B. zahlreiche, teils sehr gute Videos frei zugänglich. Die Inhalte müssen jedoch dem Lernstand der Lerngruppe sowie der zu fördernden Kompetenz angepasst sein.

Flipped Classroom bietet ohne Zweifel Vorteile. Die Schülerinnen und Schüler bilden mit Flipped Classroom ihre Medienkompetenz aus, sie können eigenständig und in ihrem eigenen Tempo arbeiten. Sie erleben Eigenverantwortung. Lehrerinnen und Lehrer können jedoch im reinen Präsenzunterricht viel leichter motivieren und Verbindlichkeit herstellen. Da dies Grundvoraussetzungen für jeden Lernprozess sind, müssen Lehrkräfte Möglichkeiten finden, ihre Schülerinnen und Schüler während der eigenverantwortlichen Erarbeitungsphase im Flipped Classroom zu motivieren. Dies gelingt – wie im Präsenzunterricht – beispielsweise durch einen situativen Rahmen, Lebensweltbezug, Lobverhalten, Wertschätzung und persönliche Zuwendung. Letzteres gelingt auch aus der Ferne. In selbst erstellten Videos wirkt die bekannte Stimme der Lehrerin oder des Lehrers positiv. Es könnten beispielsweise für die Klasse bekannte Insider oder regionale Aspekte eingearbeitet werden. Verbindlich ist Flipped Classroom dann, wenn sich die Schülerinnen und Schüler der großen Bedeutung ihrer eigenständigen Arbeit bewusst sind. Verbindlichkeit wird hergestellt, indem die Lehrkraft in der Präsenzstunde beispielsweise einen Fragenkatalog einfordert, ein Schülerprodukt abzugeben ist oder der Lernstand abgefragt wird. Dann können in der Schule, auf der Basis von eigenständig erarbeitetem Wissen und mit mehr Zeit für individuelle Zuwendung, Fragen geklärt sowie Unterrichtsgegenstände geübt, vertieft und vernetzt werden.